Der Empfehlungs-Graph: Wie du die Algorithmen von YouTube & Spotify ohne eine einzige Suchanfrage knackst
Ich erinnere mich an ein Meeting vor ein paar Jahren, bei dem ich stolz eine Liste von Top-3-Rankings bei Google für einen unserer Kunden präsentierte. Alles sah perfekt aus: Traffic, Klickraten, die üblichen KPIs. Dann lehnte sich der CEO zurück und fragte: „Das ist alles schön und gut. Aber warum findet uns auf YouTube niemand? Warum tauchen wir in keiner einzigen Playlist auf Spotify auf?“
Dieser Moment war ein Weckruf. Mir wurde klar, dass wir einen Großteil unserer Energie darauf verwendeten, in einer Welt zu gewinnen, die in Wahrheit nur noch die Hälfte des Spielfelds ausmachte. Wir waren Meister darin, Antworten auf gestellte Fragen zu geben, aber unsichtbar dort, wo Menschen Inhalte nicht mehr suchen, sondern entdecken.
Wir optimierten für die Logik von Google, während sich die Welt längst der Logik von Empfehlungsmaschinen zugewandt hatte.
Die zwei Welten der Sichtbarkeit: Pull vs. Push
Um das Problem zu verstehen, müssen wir zwei fundamental unterschiedliche Systeme begreifen, die heute um unsere Aufmerksamkeit kämpfen.
1. Die Welt des „Pull“ (Google & Co.)
Das ist das klassische Internet, wie wir es seit 20 Jahren kennen. Du hast ein Problem oder eine Frage („bestes rezept für apfelkuchen“), öffnest die Suchmaschine und tippst sie ein. Du ziehst (pull) aktiv Informationen aus dem Netz. In dieser Welt sind Keywords die Währung; wer die richtigen Keywords am besten bedient, gewinnt. Es ist ein reaktives System: Ohne Frage keine Antwort.
2. Die Welt des „Push“ (YouTube, Spotify, Netflix, TikTok)
Hier betrittst du eine Plattform, und der Algorithmus sagt: „Hey, basierend auf allem, was ich über dich weiß, glaube ich, das hier wird dir gefallen.“ Proaktiv drückt (push) dir das System Inhalte entgegen, von denen es annimmt, dass sie für dich relevant sind. Du stellst keine Frage – der Algorithmus liefert eine Antwort, bevor du überhaupt wusstest, dass du die Frage hattest.
In der Push-Welt sind Keywords fast bedeutungslos. Die Währung hier sind Engagement und Kontext. Die entscheidende Frage ist nicht mehr „Wonach sucht der User?“, sondern „Was ist der perfekte nächste Inhalt für diesen User in diesem Moment?“.
Und genau hier kommt der Empfehlungs-Graph ins Spiel.
Wie der Empfehlungs-Graph wirklich denkt
Vergiss für einen Moment alles, was du über SEO gelernt hast. Der Empfehlungs-Graph ist kein Index von Webseiten, sondern ein gigantisches, neuronales Netz aus Beziehungen zwischen Inhalten und Usern. Sein einziges Ziel: die nächste Sekunde, die nächste Minute, die nächste Stunde deiner Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Netflix schätzt den Wert seines Empfehlungssystems auf über eine Milliarde US-Dollar pro Jahr – nicht, weil es neue Kunden gewinnt, sondern weil es bestehende davon abhält zu kündigen.
Um das zu schaffen, stützt er sich auf drei zentrale Säulen:
1. User-Signale: Deine Zuschauer trainieren die KI
Jede deiner Aktionen auf einer Plattform ist ein Datensignal, das den Algorithmus füttert.
- Wiedergabezeit (Watch Time): Das stärkste Signal. Schaut jemand dein Video bis zum Ende oder bricht er nach zehn Sekunden ab?
- Positive Interaktionen: Likes, Kommentare, Shares, das Speichern in einer Playlist.
- Negative Interaktionen: Ein Skip nach drei Sekunden, ein Dislike, das Wegklicken. Diese sind fast noch wichtiger, denn sie zeigen dem System, was es nicht empfehlen soll.
Schaut ein User ein Video über „Grundlagen der Fotografie“ bis zum Ende und klickt danach auf ein zweites zum Thema „Objektive für Anfänger“, lernt der Graph: Diese beiden Themen gehören zusammen und sind für diesen Nutzertyp relevant.
2. Kontext & Semantik: Worum geht es hier eigentlich?
Empfehlungsmaschinen lesen keine Keywords, sie verstehen Konzepte. Sie analysieren den Inhalt selbst, um seine wahre Bedeutung zu erfassen:
- Video: Sie transkribieren jedes Wort, analysieren Bildinhalte und erkennen Objekte, Szenen und sogar die Stimmung.
- Musik: Sie analysieren Tempo, Tonart, Instrumentierung und die emotionale Signatur eines Songs.
Der Algorithmus versteht, dass ein Video über „Apfelkuchen backen“ nicht nur das Keyword „Apfelkuchen“ enthält. Er erkennt die dahinterliegende Entität – ein Konzept mit Verbindungen zu „Backrezepte“, „Desserts“, „Zimt“ und „Großmutters Küche“. So kann er dein Video auch jemandem empfehlen, der sich gerade ein Video über Zimtschnecken angesehen hat, ohne dass du dieses Keyword je verwendet hast.
3. Kollaboratives Filtern: Der digitale Flurfunk
Das ist die „Nutzer, die X kauften, kauften auch Y“-Logik, die Amazon groß gemacht hat. Der Graph schaut nicht nur auf dich, sondern auf Millionen anderer Nutzer, die dir ähneln. Das beste Beispiel ist Spotifys „Discover Weekly“-Playlist.
Spotify kombiniert zwei Ansätze:
- Content-Based Filtering: Du hörst viel Indie-Rock mit weiblichen Stimmen und einem Tempo von 120 BPM? Hier sind andere Songs, die diesen Kriterien entsprechen.
- Collaborative Filtering: Andere Nutzer, die auch deine Lieblings-Indie-Bands hören, haben vor Kurzem eine neue Folk-Band entdeckt, von der du noch nie gehört hast. Der Algorithmus schlägt sie dir vor, weil euer Geschmacksprofil ähnlich ist.
Dieser Mix ist so erfolgreich, dass heute laut Spotify rund 30 % aller Streams auf der Plattform von KI-gesteuerten Empfehlungen wie „Discover Weekly“ oder „Radio“ stammen.
Warum das mehr ist als nur „ein anderer Kanal“
Jetzt wird es provokant: Wenn Studien zeigen, dass auf YouTube über 70 % der gesamten Wiedergabezeit durch Empfehlungen zustande kommt, wofür optimierst du dann eigentlich? Für die 30 % der User, die aktiv suchen, oder für die 70 %, die entdecken?
Wenn 80 % der auf Netflix angesehenen Inhalte über das Empfehlungssystem gefunden werden, ist dein Marketing dann darauf ausgelegt, in Suchergebnissen aufzutauchen oder im „Als Nächstes ansehen“-Feed?
Wir erleben gerade einen fundamentalen Wandel. Die Ära, in der Sichtbarkeit allein durch die Beantwortung von Suchanfragen entstand, neigt sich dem Ende zu. Wir betreten das Zeitalter der KI-Sichtbarkeit, in dem es nicht mehr darum geht, gefunden zu werden, sondern darum, empfohlen zu werden.
Deine Marke, dein Produkt, dein Content muss zu einem vertrauenswürdigen und kontextuell passenden Knotenpunkt im Empfehlungs-Graphen werden. Wenn der Algorithmus deine Inhalte nicht versteht und nicht darauf vertrauen kann, dass sie die Nutzer binden, existierst du in der Welt des Entdeckens einfach nicht.
FAQ: Deine ersten Fragen zum Empfehlungs-Graph
Was ist der größte Unterschied zwischen Suche und Empfehlung?
Die Suche ist reaktiv (Pull): Du hast eine Absicht und formulierst sie als Suchanfrage. Empfehlungen sind proaktiv (Push): Das System antizipiert deine Absicht basierend auf deinem bisherigen Verhalten und schlägt dir von sich aus Inhalte vor.
Sind Keywords damit komplett nutzlos geworden?
Nein, aber ihre Rolle hat sich verändert. Auf Plattformen wie YouTube sind sie noch wichtig, um einen thematischen Anker zu setzen (Titel, Beschreibung), aber sie sind nicht mehr der primäre Hebel für massive Reichweite. Die Skalierung kommt über Empfehlungen, die auf Engagement und kontextuellen Verbindungen basieren, nicht auf Keyword-Dichte.
Wie kann ich als kleine Marke damit anfangen?
Konzentriere dich auf eine Nische und erstelle Inhalte, die eine klare „Konsum-Kette“ ermöglichen. Frag dich nicht: „Welches Keyword hat viel Suchvolumen?“, sondern: „Wenn jemand Video A gesehen hat, was ist das logische Video B, das er sofort danach sehen wollen würde?“ Erstelle Serien und inhaltliche Cluster, die die Zuschauer binden und dem Algorithmus klare Signale senden.
Gilt das nur für Video und Musik?
Nein, das Prinzip ist universell. Amazon empfiehlt Produkte, Instagram und TikTok empfehlen Reels, Nachrichten-Apps empfehlen dir den nächsten Artikel. Überall dort, wo ein Überangebot an Inhalten herrscht, werden Empfehlungs-Graphen zu den neuen Gatekeepern der Aufmerksamkeit.
Der nächste Schritt ist kein Klick, sondern ein Umdenken
Wer heute noch allein in Keywords, Rankings und Backlinks denkt, optimiert für das Internet von gestern. Die Zukunft der Sichtbarkeit wird nicht in der Suchleiste entschieden, sondern im endlosen Strom des nächsten empfohlenen Inhalts.
Deine Aufgabe ist nicht mehr nur, die beste Antwort zu sein. Deine Aufgabe ist es, der beste nächste Klick zu sein. Immer und immer wieder.
